ROLF LAUER

DAS CHORGESTÜHL  
II

Über diese praktische Funktion hinaus entfaltet sich ein überaus reiches Bildprogramm. Szenen aus der antiken Mythologie, dem Alten und Neuen Testament, symbolische Bilder, Darstellungen des menschlichen Lebens und fantastische Mischwesen, halb Tier halb Mensch, sind über das Gestühl verteilt. Dämonische und groteske Figuren tauchen eher an untergeordneten Stellen auf, etwa den Unterseiten der Klappsitze (Miserikordien), den Sockelbrettern der Rücklehnen oder den Handknäufen. Biblische Szenen, wie etwa das Abrahamsopfer oder das Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus, schmücken die Eingangswangen, deren Aufsätze aus reich geschnitzten Blattvoluten wiederum Drolerien Platz bieten. Zwar lässt sich kein systematisches theologisches Programm feststellen, doch zieht sich wie ein roter Faden das Thema des Kampfes der Tugenden und Laster als Mahnung für die Benutzer durch die Bildwelt des Chorgestühls.

Dem Rang der Architektur entsprechend wurden die wichtigsten der Liturgie dienenden Ausstattungsstücke, der Hochaltar und das Chorgestühl, an führende Bildhauerwerkstätten vergeben. Dabei haben, wie die Stilanalyse zeigt, neben Künstlern der Kölner Dombauhütte auch Bildhauer aus Paris mitgearbeitet. Maasländische Künstler waren ebenfalls vertreten.

Anders als bei Kloster-, Stifts- und Pfarrkirchen, die auf kleinere lokale Werkstätten zurückgreifen konnten, müssen an den Kathedralen in kurzer Zeit Ausstattungen von höchster künstlerischer Qualität und in großer Menge beschafft werden. Nur ein leistungsfähiger und finanzkräftiger Hüttenbetrieb mit einem planenden und koordinierenden Dombaumeister an der Spitze war in der Lage, ein solches Ausstattungsprogramm zu bewältigen. Das Chorgestühl des Kölner Domes ist ein hervorragendes Zeugnis für die internationalen Verflechtungen der gotischen Kunst.