REINHARD MATZ

KUNSTPRODUKTION ALS INTERPRETIERENDE KUNST. 145 JAHRE AUSSTATTUNGSFOTOGRAFIE AM KÖLNER DOM
II
1. Theoretisches
Aber es ist nicht nur handwerkliches Geschick des Kollegen, das die Ansprache des Bildes begründet, es ist zugleich seine neuzeitlichere Wirkung. Im Museum wirkt der überlebensgroße Kopf auf dem hohen Sockel massig, im Profil treten die Augenwülste und das Kinn hervor, der Blick geht in die Ferne, die Mundwinkel umspielt der Ansatz eines überlegenen Lächelns, das die Gesamtwirkung allerdings oberflächlicher erscheinen, im Vergleich mit der Fotografie fast ein wenig ins Dümmliche kippen lässt. Anders als im Museum sehe ich in der Postkarte nicht den Kopf eines antiken Helden. Die Kamera steht auf mittlerer Höhe des Kopfes, der im Bildrahmen ein wenig nach unten gezogen ist. Der Kopf wirkt durch das Oberlicht verschlankt, der Blick scheint nach innen gerichtet. Ich sehe ein Gesicht mit den Brechungen, den inneren Widersprüchen, der Vielfältigkeit eines eher modernen Selbstbewusstseins. Es ist die Verschränkung von Energie und Zurückhaltung, von wissender Überlegenheit und Resignation, kurzum: Es ist die Größe eines hamletschen Zweifels, die dem Portrait im Bild seine Kraft verleiht.¹

Noch einmal: Wie ist das möglich? Die Fotografie eines Kunstwerks vermittelt andere Züge als das Werk selbst?

Lassen wir uns von einer routinierten Fotografin helfen. Mit professioneller Gelassenheit erzählt sie: "Seit mehr als dreißig Jahren fotografiere ich Menschen. Ich kenne die Rezepte, nach denen die Fotografen einen Dicken dünn, einen Alten jung und einen Hässlichen schön machen. Ich weiß, wie ein bedeutender Geist auf dem Foto zu einer Null und ein Unbedarfter zur Persönlichkeit wird. Ich kann meine Modelle fotografisch erniedrigen oder erhöhen, kann durch Beleuchtungstechnik Schwarz oder Weiß hervorrufen wie ich es will.„ ² Und Helmar Lerski, der 1936 in Tel Aviv 175 so unterschiedliche Aufnahmen eines Mannes machte, dass man bei manchen glauben kann, es seien Fotografien anderer, formulierte 1953 seinen Anspruch so: "Das Modell zu diesem Werk ( ...) war ein einfacher junger Mann, der weder fotogen war noch schauspielerische Fähigkeiten besitzen durfte. Ich >schrieb mit Licht<, und aus dem Modell wurden alle Gestalten meiner Fantasie, wurde ein Napleon, ein Bettler, ein mittelalterlicher Mönch, ein Ritter der Kreuzzüge, ein moderner Techniker, ein religiöser Fanatiker, eine gotische Statue, eine Totenmaske. ³

Die Zitate beschreiben zwar die Portraitarbeit mit lebenden Menschen, weisen uns aber gerade dadurch in die richtige Richtung: je mehr gestalterische Eingriffsmöglichkeiten der fotografierte Gegenstand bietet, desto selbstständiger ist das fotografische Bild ihm gegenüber. Die Fotografie eines Gemäldes kann gegebenenfalls die erhabene Textur des Farbauftrags
1 Zu dieser einleitenden Problematisierung habe ich mich absichtlich in die Rolle des Rezipienten versetzt, um die unterschiedlichen Wirkungen vom Ergebnis her zu beschreiben. Als Produzent
neigt man dazu, die eigene Sicht als natürliche, einzig angemessene Betrachtungsweise anzunehmen. Dabei habe ich auf die Wiedergabe der Postkarte verzichtet, weil der Eindruck vor Ort ihr ja in jedem Fall nur verbal gegenüberzustellen wäre, die Ebene der Behauptung mithin nicht zu verlassen ist. Und eine Abbildung der Museumssituation würde die Szenerie ihrerseits stilisieren.

2 Liselotte Strelow: Das manipulierte Menschenbild - oder die
Kunst, fotogen zu sein, Düsseldorf 1961.

3 Helmar Lerski: Verwandlungen durch Licht, hg. von Ute Eskild
sen, Freren 1982, S. 108
.