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Aber
es ist nicht nur handwerkliches Geschick des Kollegen, das die Ansprache
des Bildes begründet, es ist zugleich seine neuzeitlichere Wirkung.
Im Museum wirkt der überlebensgroße Kopf auf dem hohen Sockel
massig, im Profil treten die Augenwülste und das Kinn hervor, der
Blick geht in die Ferne, die Mundwinkel umspielt der Ansatz eines überlegenen
Lächelns, das die Gesamtwirkung allerdings oberflächlicher erscheinen,
im Vergleich mit der Fotografie fast ein wenig ins Dümmliche kippen
lässt. Anders als im Museum sehe ich in der Postkarte nicht den Kopf
eines antiken Helden. Die Kamera steht auf mittlerer Höhe des Kopfes,
der im Bildrahmen
ein wenig nach unten gezogen ist. Der Kopf wirkt durch das Oberlicht verschlankt,
der Blick scheint nach innen gerichtet. Ich sehe ein Gesicht mit den Brechungen,
den inneren Widersprüchen, der Vielfältigkeit eines eher modernen
Selbstbewusstseins. Es ist die Verschränkung von Energie und Zurückhaltung,
von wissender Überlegenheit und Resignation, kurzum: Es ist die Größe
eines hamletschen Zweifels, die dem Portrait im Bild seine Kraft verleiht.¹
Noch einmal: Wie ist das möglich? Die Fotografie eines Kunstwerks
vermittelt andere Züge als das Werk selbst?
Lassen wir uns von einer routinierten Fotografin helfen. Mit professioneller
Gelassenheit erzählt sie: "Seit mehr als dreißig Jahren
fotografiere ich Menschen. Ich kenne die Rezepte, nach denen die Fotografen
einen Dicken dünn, einen Alten jung und einen Hässlichen schön
machen. Ich weiß, wie ein bedeutender Geist auf dem Foto zu einer
Null und ein Unbedarfter zur Persönlichkeit wird. Ich kann meine
Modelle fotografisch erniedrigen oder erhöhen, kann durch Beleuchtungstechnik
Schwarz oder Weiß hervorrufen wie ich es will. ²
Und Helmar Lerski, der 1936
in Tel Aviv
175
so unterschiedliche
Aufnahmen eines Mannes machte, dass man bei manchen glauben kann, es seien
Fotografien anderer, formulierte 1953
seinen Anspruch
so: "Das Modell zu diesem Werk ( ...) war ein einfacher junger Mann,
der weder fotogen war noch schauspielerische Fähigkeiten besitzen
durfte. Ich >schrieb mit Licht<, und aus dem Modell wurden alle
Gestalten meiner Fantasie, wurde ein Napleon, ein Bettler, ein mittelalterlicher
Mönch, ein Ritter der Kreuzzüge, ein moderner Techniker, ein
religiöser Fanatiker, eine gotische Statue, eine Totenmaske.
³
Die Zitate beschreiben
zwar die Portraitarbeit mit lebenden Menschen, weisen uns aber gerade
dadurch in die richtige Richtung: je mehr gestalterische Eingriffsmöglichkeiten
der fotografierte Gegenstand bietet, desto selbstständiger ist das
fotografische Bild ihm gegenüber. Die Fotografie eines Gemäldes
kann gegebenenfalls die erhabene Textur des Farbauftrags
1
Zu dieser einleitenden Problematisierung habe ich mich absichtlich in die
Rolle des Rezipienten versetzt, um die unterschiedlichen Wirkungen vom Ergebnis
her zu beschreiben. Als Produzent
neigt man dazu, die eigene Sicht als natürliche, einzig angemessene
Betrachtungsweise anzunehmen. Dabei habe ich auf die Wiedergabe der Postkarte
verzichtet, weil der Eindruck vor Ort ihr ja in jedem Fall nur verbal gegenüberzustellen
wäre, die Ebene der Behauptung mithin nicht zu verlassen ist. Und eine
Abbildung der Museumssituation würde die Szenerie ihrerseits stilisieren.
2 Liselotte Strelow: Das manipulierte Menschenbild - oder die
Kunst, fotogen zu sein, Düsseldorf 1961.
3 Helmar Lerski: Verwandlungen durch Licht, hg. von Ute Eskild
sen, Freren 1982, S. 108 |