REINHARD MATZ

KUNSTREPRODUKTION ALS INTERPRETIERENDE KUNST. 145 JAHRE AUSSTATTUNGSFOTOGRAFIE AM KÖLNER DOM
IV
1. Theoretisches

1930 nebst Abbildung, aber auch der neueren Abbildung 2, interpretiert die Geschlechtlichkeit der plastischen Arbeit 1987 sehr viel vorsichtiger: »Aus einem kopftuchartig drapierten, der Dreiecksform der Miserikordie in den Faltenzügen folgenden Stoff schaut ein leicht negroides, bartloses Menschengesicht hervor.«7

Zu den Aufnahmen des Chorgestühls haben wir zunächst mit einer Taschenlampe Richtung und Höhe des Hauptlichts festgelegt, dann ein Licht gesetzt, das (für den kunsthistorischen Gebrauch) alle schnitzerischen Details zeigt, also nirgends überstrahlt oder im Schatten versinkt, ein Licht, das nichtsdestoweniger die Plastizität des Gegenstands so weit wie möglich profiliert und dabei eine Wirkung erzielt, die unserer Vorstellung davon entspricht, was an dem Objekt wichtig sei - oder was es überhaupt sei. Tatsächlich konnte ich mich bei der gezeigten Miserikordie nicht entscheiden. Schließlich habe ich das hölzerne Gesicht vom gleichen Kamerastandpunkt in drei geringfügigen Lichtvarianten aufgenommen, hart und relativ flach, weicher und steiler. Ich weiß nicht, ob Sie mir angesichts der noch geringen Unterschiede zu folgen bereit sind, aber ich sehe einmal einen Mann, dann eine Frau und schließlich ein androgynes Wesen.
Sie fragen, was für einen Menschen diese Schnitzarbeit denn nun wirklich darstellt? Wie gesagt, ich konnte mich nicht entscheiden: eine Frage der Laune, des Lichts, der individuellen Präferenz und Projektion. Diese Offenheit ist der Vorteil guter Kunst, sie bietet den Stoff für fortwährende fotografische und kunsthistorische Interpretationen. Denn überprüfen werden wir das zum Gesicht gehörige Geschlecht nicht können. Das ist ihr Nachteil.

2. Historisches

Das ALLGEMEINE BEWUSSTSEIN über den Kölner Dom ist heute von seiner berühmten Doppelturmfassade geprägt, während die kunstvolle Einrichtung des Bauwerks im Einzelnen kaum bekannt ist. Das war nicht immer so. Zwanzig

 

4 Dominique Paine / Michel Frizot: Photographie/ sculpture. Un bilan de proximité, in: dieselben: Photographie/Sculpture, Paris 1991, S. 9, Übersetzung RM.

5 Ich beziehe die Metapher des Verhältnisses von Partitur und Musik von Janos Frecot, der sie allerdings für das Verhältnis von (historischem) Negativ zu (neuem) Abzug in den Diskurs über Fotografie einführte; vgl. Ztsch. Fotogeschichte, Nr. 35, Frankfurt Main 1990, S. 63.

6 Bernhard von Tieschowitz: Das Chorgestühl des Kölner Domes,
Berlin 1930, S. 17, als Tafel Nr. 43a dort abgebildet.

Ulrike Bergmann: Das Chorgestühl des Kölner Domes, Bd. 2,
Neuss 1987, S. 17.

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. Abb. 3-5: Aufnahmen Matz und Schenk, Dombauarchiv, 1993